Der betende Schneekristall
Eine Schneelandschaft im Sonnenlicht. Auf der Alpwiese liegen Millionen wenn nicht Milliarden von Schneeflocken, auf einen Quadratmeter sollen innert einer Stunde etwa 600'000 von ihnen fallen, die Klimaforscher an der Eidg. Technischen Hochschule ETH in Zürich haben sie gezählt!
Als scheinbar einheitliche, formlose Masse breitet sich die Schneedecke über die Bergkuppe aus. Der Schnee als Masse reflektiert das Sonnenlicht und blendet das Auge. Es wird Abend, die Sonne neigt sich dem Untergang zu, schrägt fällt das Licht, es ist Zeit, den Rückweg anzutreten. Beim nächsten Weg, im tiefen Schnee kaum als Spur erkennbar, biegen wir ab. Wir gehen jetzt mit dem Rücken zur Sonne. Auf einmal bleiben wir wie angewurzelt stehen, so sehr wird unsere Aufmerksamkeit von einer Welt in Anspruch genommen, die wir in dieser Klarheit und Schönheit noch nie bewusst wahrgenommen haben. Das «Leichentuch» über der schlafenden Natur hat sich nun, da unser Blick von der Sonne abgewandt ist, auf wundersame Weise in eine äusserst lebendige Landschaft von winzig kleinen funkelnden Sternen verwandelt, als ob jemand mit grosszügiger Hand Diamanten auf die verschneite Erde gestreut hätte.
Es ist aber trotz der schier unvorstellbaren Zahl ihrer Teile nicht die Masse, die leuchtet, nein, es ist das Einzelne. Es ist der einzelne, winzige Schneekristall, der auf das Sonnenlicht - antwortet, indem er, je nachdem, in welchem Winkel er sich gerade zur Sonne befindet, deren Licht – mehr noch:die ganze riesige Sonne selber – reflektiert. Der einzelne Kristall scheint sich nicht um die Millionen von Artgenossen um sich herum zu kümmern, er ist, obwohl der das gleiche tut wie andere, Solist im Konzert der Vielheit zu Ehren der einen, einzigen Einheit, der Sonne.
Die Masse der zu «Schnee» verdichteten Kirstalle hingegen ist nur diffus «weiss», nur im Einzelnen sehen wir die Sonne, das Licht. Auf eindrücklichere Weise ist uns der Unterschied zwischen Einzelnem und Masse noch nie vor Augen gekommen. Und schaudernd begreifen wir, dass die Vielheit selbst bei der grösstmögliche Zahl ihrer Einheiten etwas ganz anderes ist als Masse. Der Unterschied zwischen «lebendiger» Vielheit und «toter» Masse ist ein im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtiges Thema und wird uns am Studienzentrum Himmel+Erde immer wieder beschäftigen.
Der einzelne Schneekristall kann nur deshalb die Sonne in sich aufnehmen, ja, selber zur «Sonne», oder – eigentlich genauer – zum Mond werden, weil der einzelne Kristall noch nicht zur Masse «verschmolzen», sondern noch Zentrum ist, zwar unendlich viel kleiner, aber doch Zentrum wie die Sonne am Himmel. Wollten wir daraus eine Lehre ziehen, wäre es zweifellos eine religiöse. Das Prinzip der Mystik scheint darin auf: Abkehr des Einzelnen von der Vielheit, Hinwendung zur Einheit. Aber ist nicht auch das, was wir jetzt anschauen, die Vielheit in ihrem Antworten auf die Einheit, ein mystisches Erleben der Wirklichkeit von Himmel und Erde? Ist das Bild der Millionen «Monde» im Schneefeld vielleicht das, was Plato gesehen hat, als er sein Höhlengleichnis schrieb? Vor allem aber ist es das Bild des Christus, als Sonne und Licht der Welt, das von den einzelnen Seelen aufgenommen und beantwortet wird. Und den Mitläufern der Schneekristalle in der Masse nützt es nichts, Teil der Masse zu sein.
Wir gestehen es: Angesichts der unendlich vielen Lichter im Schnee ist uns der Gedanke gekommen, hier die lebendigen, die nicht der Erde, nicht dem Tod, nicht der Schwere, nicht der Vergänglichkeit, sondern dem Himmel, dem Licht, der Leichte, dem Leben, der Unvergänglichkeit zugewandten Seelen in ihrer Gottesreflexion vor Augen zu haben. «Die Schneekristalle beten,» sagten wir, und machten, dass wir noch bei Tageslicht zu Tale kamen.